Ich bin du

Was empfinden Gäste? Mikhajlo Vasiljev

Publizistischer Aufsatz

Im Laufe der Zeit haben wir uns daran gewöhnt, dass sie in unserer unmittelbaren Nähe leben.
Jetzt sorgt ihre Anwesenheit für keine Gefühlsbewegungen mehr, sie ist zur Normalität verkommen.
Wir interessieren uns nicht mehr für die Schicksale der Menschen, die wegen dem Krieg zu uns kommen mussten, der plötzlich mit Schüssen und  Kanonen vom Himmel fiel.
Ich habe eine Freundin, die 2014 aus Sewerodonezk geflohen ist. Ich hatte aber nie das Interesse gehabt, zu erfahren, was sie jetzt empfindet. Wir sind zusammen in einer Band, ich spiele Schlagzeug und sie Gitarre. Wir hören gleiche Musik und auf der Bühne schlagen unsere Herzen im gleichen Rhythmus.
Eines jedoch werde ich nie ihr nachempfinden können: Den Abschied vom Zuhause.
An jenem Tag setzten wir uns in einem Lokal nach den Vorlesungen zusammen, bestellten den Kaffee. Ich holte meinen Notizblock und den Kugelschreiber heraus und… wurde ratlos. Nicht, weil ich nur wenige Fragen hatte. Umgekehrt, ich wollte alles wissen. Ich wollte, dass meine Ohren es tatsächlich hörten. Das Persönliche durfte nicht an mir abprallen.
ВасильєвFür den Anfang unseres Gesprächs wählte ich letztendlich das Thema „Zuhause“. Ich fragte: Wie sah es denn mit der Bleibe in der neuen Stadt aus? Ich dachte, dass ich ihre Antwort schon wüsste, da ich sie schon ziemlich lange kannte. Allerdings erzählte das Mädchen etwas, das ich überhaupt nicht zu hören erwartet habe. Bis zum diesen Tag habe ich mich daran gewöhnt, dass sie in einem mehrstöckigen Haus am Rande der Stadt wohnt. Wie ich mich wunderte, als ich erfuhr, dass am Anfang sie und ihre ganze Familie lange Zeit in einem überfüllten Heim verbrachten. „Als wir in die Wohnung umgezogen sind, waren dort nur blanke Wände, wir haben sie selbst renoviert. Mit der Zeit hat sich aber alles gefügt.“- sagte sie.

Das Mädchen erzählte, dass in der Schule sich alle ziemlich teilnahmslos ihr gegenüber verhielten, doch man passt sich mit der Zeit an, findet neue Bekanntschaften, danach neue Freunde. Auch sie fand einen Freund, einen einzigen in der gesamten Klasse. Der Junge spielt auch in unserer Band. Ehrlich gesagt bewundere ich solche Menschen. Die beiden zählte man zu Außenseitern, sie hielten dennoch immer zueinander, waren stolz darauf, sie selbst zu sein. Sich von den Anderen zu unterscheiden.
Eigentlich begegnet das Mädchen alldem mit Humor. Ihre unbezwingbare Lebensfreude kam immer wieder durch ihr Lächeln hindurch. Da verstand ich, dass diesen Menschen nichts herunterkriegen wird. Sie erzählte, sie hätte sich ganz einfach an die Topografie der neuen Stadt gewöhnt. „Ich bin doch ständig unterwegs. Ich war schon in solchen vergessenen Ecken, dass es hier alles sich wie ein großes Dorf anfühlt.“ Mit der Zeit verwandelte sich die feindliche, unbekannte Stadt zu einer herzlich brüderlichen. Sie drang tiefer und tiefer ihr ins Herz. Das Mädchen erinnerte sich, dass in Sewerodonezk sie nicht sie selbst sein konnte. Sie wurde nicht verstanden, die konservative Gesellschaft versuchte, alle über einen Kamm zu scheren. „Das ist eine Industriestadt, sie braucht Arbeiter und keine kreativen Persönlichkeiten wie uns.“
Wie ist es denn mit lieblichen Ausblicken und vertrauten Straßen? Mit den Plätzen, an die man sich gewöhnte? Mit denen, wo man seine Kindheit verbrachte?
Nach dieser Frage kamen ihre Augenbrauen zusammen. Eine Zeit lang saß sie nur da, starrte den Fußboden an und schwieg. Dann sagte sie: „Weißt du, Kiew ist Stadt-Tempo. Das Ukrainische New York. Dort jedoch ist es gemütlich, alles liegt in der Nähe. Man kennt sich, so haben wir gelebt.“
Ich hatte Recht, sie vermisste ihre Heimat. Nicht die Menschen, aber das Land, das man ihr wegnahm.
Im nächsten Augenblick kam ihr Lebensmut zurück.

„In Kiew dagegen lebt man nach den Werten, von denen man die ganze Zeit spricht. Hier gibt es Demokratie, hier darf man sich äußern und in seiner Denkweise frei sein. Man hat keine Angst davor, für Individualität bestraft zu werden. Man muss nicht vor denen, denen dein Aussehen nicht passt, wegrennen. Menschen werden zu dir angezogen, sie interessieren sich für dein Schicksal, sie fühlen mit. Genau so wie du gerade.“

Aus dem Lokal bin ich als anderer Mensch rausgekommen. Dieses Gespräch veränderte sehr vieles in mir. Während ich zu der Petscherska Metrostation marschierte, sah ich die Stadt mit neuen Augen. Ich war stolz darauf, dass wir Menschen Hoffnung geben. Dass wir sie nicht im Stich lassen. Ich verstand, dass wir noch einen sehr langen schwierigen Weg vor uns haben, nichtsdestotrotz gehen wir in die richtige Richtung. Wir nehmen Menschen wahr, die unsere Hilfe brauchen. Wir leben und arbeiten mit ihnen zusammen. Wir arbeiten daran, dass unsere Nachkommen ein besseres glücklicheres Leben führen können.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Viktoria Puskar

Ich bin ein anderes du! Bogdan Konotopzev

Jeder von uns hat einen Leitfaden im Leben, etwas an dem man sein Leben messt.
Für Manche ist das ein bestimmtes Ziel, ein Traum, Prinzipien, Regelungen. Für mich derzeit spielt diese Rolle eine Person, die meine Einstellung zum eigenen Dasein verändert hat. Es ist ein Mädchen, das mir eine einfache Weisheit offenlegte: Man darf unter keinen Umständen, den Kopf und die Hände hängen lassen, man soll für sich, seine Ideale gerade stehen und unter allen Umständen versuchen, seine Menschlichkeit zu bewahren.
Unser Treffen ereignete sich während eines Erfahrungsaustauschprogramms zwischen ukrainischen und polnischen Jugendlichen, das im rahmen des Projekts “Dialog und Versöhnung in der Ukraine” in Polland stattfand. Sie kam zuletzt an, da sie davor noch an einem anderen Programm teilnahm und außerdem Schwierigkeiten hatte, zum Poronina zu gelangen, einem Dorf in dem wir alle untergebracht waren.

Ich erinnere mich gut daran, wie sie an der Hausschwelle stand: Lächelnd, in beiden Händen einen Koffer haltend, hinter dem Rücken hang bei ihr ein Überzug mit einer Gitarre.

Schon nach dem ersten Blick war mir klar, dass es kein gewöhnliches Mädchen war. Ukrainer und Polen begrüßten sie und luden gleich zu einer gemeinsamen Besprechung ein, die am zweiten Tag unseres Treffens in Polland stattfinden sollte. Seit dem ersten Moment bewies sie sich als spiritueller Leader, der sofort zu Hilfe eilte, sobald sie benötigt wurde. Sie fing als erste an, polnisch-ukrainische Lieder zu singen und vereinte somit beide Diasporen. Ihr Lächeln ist ihr nie aus dem Gesicht gewichen, ungeachtet davon, welche Probleme auch immer wir hatten.
Dieses Mädchen heißt Maria, sie ist 16 Jahre alt und ist Studentin an der Kharkiv Nationalen Medizinischen Universität. Formel ist sie BVP, also Binnenvertriebene Person, was so viel bedeutet, dass sie ihr Zuhause, Freunde, alles was ihr lieb war, ihr gewöhnliches und ruhiges Leben wegen dem in der Ukraine herrschenden Krieg verlor.
Ihre Geschichte beeindruckt mich heute noch. Sie war erst vierzehn, als sie wegen der Okkupation von Donezk nach Kyiv fliehen musste. Zu dem Zeitpunkt war sie in einem Ferienlager in der Nähe von Odessa, also ist sie in die Hauptstadt buchstäblich in Sandalen und Bikini angekommen. Der Herbst kam schnell, ihr Bekanntenkreis bestand aus der Ex-Freundin ihres Bruders und ihrem Vater. Also musste sie im Wohnheim wohnen, dass das Peter Bogomolez Lyzeum (Gymnasium) für seine Schäler zur Verfügung stellte. Sie hat es gerade rechtzeitig geschafft, ihre Papiere vor dem Anmeldeschluss dorthin einzureichen. Die älteren Schüler kamen aus dem Westen der Ukraine, daher entstanden zwischen ihnen und Maria zunächst Spannungen: In den ersten Wochen bekam sie nicht mal einen Platz im Schrank, um ihre Sachen auspacken zu können, also fing bei ihr jeder Tag mit dem Auspacken von Koffern an, die sie unter ihrem Bett aufbewahrte. Leider heizte der laufende Krieg den mentalen Konflikt zwischen dem Westen und Osten der Ukraine an, dabei kamen in manchen Menschen nicht die besten Charaktereigenschaften hervor: Intoleranz zu anderen, insbesondere zu Vertriebenen. Das machte das Leben des Mädchens in den ersten Monaten unerträglich.
Am Anfang hatte sie es in Kyiv richtig schwer, denn in ihrer Heimatstadt Donezk war sie ständig mit etwas beschäftigt: professionelles Schwimmen, Malen, sie lernte auf verschiedenen Musikinstrumenten zu spielen, besuchte ein Kurs für junge Ärzte, ein Kinderfernsehstudio. In Kyiv befand sie sich auf ein mal in einer Situation, fremd und unwillkommen, belästigend für die Anderen zu sein, ohne ihre gewöhnlichen Beschäftigungen und Hobbys. Außerdem wurde sie in den ersten Monaten ständig gerügt, da sie unpassende Kleidung anhatte. Aber was konnte sie denn tun, wenn ihre „Garderobe“ ausschließlich aus Shorts und Tops bestand? Ihre Eltern schickten ihr etwas Geld und sie suchte viele Secondhandläden nach einer schwarzen Jeanshose ab.
Einen besonderen Platz in Marias Leben belegten Ereignisse vom Maidan Nesaleznosti (Winter 2013 – 2014 ). Damals lebte sie in noch friedlichen Stadt Donezk, fuhr aber mehrere Male in die Hauptstadt. Mehr als zehn mal war sie auf dem Maidan, half Ärzten, war sogar im Zentrum von Zusammenstößen mit der Stadtmiliz, die einen verbrecherischen Befehl erhielten, auf unbewaffnete zu schießen und Protestierende zu verprügeln. Ihre Eltern bangten um sie so sehr, dass ihr Vater sie auf eigenen Händen drei mal zum Zug nach Donezk trug, nur um sie vom Maidan fern zu halten.
Jetzt im friedlichen Kyiv vermisste sie ihre Familie, Freunde und Bekannte, welche sie im Osten zurücklassen musste, dennoch beeinträchtigte dies nicht ihren Kampfgeist. Sie fing an, an verschiedenen Konferenzen, Trainings und Begegnungen teil zu nehmen, lernte viele Leute kennen, die derzeit unser Land vorwärts bewegen.
Ihr Engagement im Lyzeum darf auch nicht vergessen sein: Bekämpfung von Korruption, Betrug und der Verletzung von bürgerlichen Freiheiten. Trotz der Tatsache, dass das Mädchen erst sechzehn ist, kann ich mit Sicherheit behaupten, dass sie eine starke und mutige Person ist, die niemals aufgibt. Wie die französische Marianne, die das Symbol für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit steht, ist Maria für uns Ukrainer ein Symbol der Unbesiegbarkeit und Freiheit. Wo die meisten Leute an ihrer Stelle schon vor langer Zeit aufgeben würden, kämpft Maria weiterhin für ihr Glück, was sie zu einer echten Persönlichkeit macht. Nun will sie eine Wissenschaftlerin und Forscherin werden und hat schon einiges in dieser Richtung getan: Mit ihrer Fähigkeit zur vielseitigen Entfaltung, verfasste sie schon wissenschaftliche Arbeiten zu solchen Themen wie Stoffwechsel, Endokrinologie, Genetik und experimentelle Kardiologie. Darüber hinaus ist sie die Gründerin der Jugendbewegung “Our Choice” und Gewinnerin der Internationalen Philosophie-Olympiade (IPO), die dieses Jahr in Brüssel stattfand.
Ich schaute ihr zu und fing an zu verstehen, dass man für sein Gluck kämpfen soll. Nur du allein bist der Architekt deines Lebens und nur von dir hängt es ab, wie es wird. Wenn man die Hoffnung in seinem Herzen trägt, seinen Kopf klar hält, den Glauben an das Kommen von besseren Zeiten nicht verliert, dann wird man früher oder später sein Glück sicherlich finden. Im Roman “Die Dreiköpfe” von John Bagryany ist sehr zutreffend gesagt: Mutige haben immer Glück. Ich stimme dem zu, denn Maria, der mutigste Mensch, den ich in meinem Leben gesehen habe, ist der beste Beweis dafür!

Zum Studiumsanfang kam meine gute Freundin Maria (jetzt darf ich sie so nennen) in meiner Heimatstadt Charkiv an. Ich war froh, ihr bei den Feierlichkeiten zum Anfang des Ersten Semesters zur Seite zu stehen und danach improvisierte für sie eine kurze Stadtführung.
Ich möchte so gern, dass Maria sich hier nicht einsam fühlt, dass sie weiß, hier in einer ihr fremden Stadt, hat sie Freunde und Unterstützung. Denn selbst die stärksten Menschen brauchen Freunde.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Viktoria Puskar

Ein Kind der Ukraine. Maria Omeltschenko

Das Zuhause, mein geliebtes Heim, das Zimmer, der Tisch, seit der Kindheit geliebte Kuscheltiere liegen auf dem Bett, das Wohnzimmerfenster, aus dem man die halbe Stadt sieht. Das Fenster blickt nach Osten, von hier aus kann man die schönsten Sonnenaufgänge beobachten, als ob das Leben selbst geboren wird…
Bei der Innenausstattung unserer neuen Wohnung half ich meiner Mutter tatkräftig mit: Gardinenschleifen, Farbpalette, einige Bilder, die ich extra dafür malte. Wir sind erst vor kurzem wir in dieses langersehnte Haus umgezogen, pünktlich zum ersten September, und müssen der Wohnung noch den Feinschilf verpassen. Meine Mutter sagt, dass wir noch Fotos von uns an die Wände hängen sollen: Von uns, den Kindern und von der gesamten Familie, dann wird die Wohnung tatsächlich unsere, sie wird lebendig… Im Eingangsbereich, wie einen Talisman, hängen wir ein Bild von Julia Kyselöva auf, einer Malerin aus Donezk, das wir bei ihr in Auftrag gegeben haben: Unsere ganze Familie, die Eltern und vier Kinder und unser Haus: Wir sind auf dem Weg nach Hause, es ist schon sehr nahe.
Mein Donezk, sauber, aufgeräumt, voll von Rosenbüschen, meine Schule und die Musikschule sind in der Nähe, auch der Palast der Kinderkünste und der Sportpalast. Von meinem Fenster aus kann man die Häuser meiner Freunde sehen.
Der Frühling 2014, das Ende der 9. Klasse. Bald ist der Schulabschlussball, der erste in meinem Leben, mein Kleid ist aus einem Stoff, der so dünn wie ein Spinnennetz ist, grelle Himbeerfarbe…
Wie wird er wohl sein? Wahrscheinlich etwas sehr Schönes… Nach dem Abschlussball stehen noch die Eintrittsprüfungen in das Medizinische Lyzeum an. Ich bin ganz sicher, dass ich aufgenommen werde, denn seit meiner Kindheit träume ich von der Medizin, nahm an dem „Junger Medikus“-Kurs teil, das von der Medizinischen Universität angeboten wurde, ging zu den Fakultäten und in die Krankenhäuser…
Es ist alles so schön! Das Gefühl der Jugend, des Frühlings, des Glücks, die Zukunftssicherheit – es wird alles gut werden!
Nein, doch nicht. Der Abschlussball fällt aus. Unser Haus gehört uns nicht mehr. Der Talisman schaffte es nicht,  unsere Welt zu beschützen. Kuscheltiere und Fotos ließen wir zurück.

Denn morgen war Krieg.

„Es gäbe kein Glück, wenn das Unglück nicht nachgeholfen hätte“ – ein bei uns allgemein bekanntes Sprichwort. Ich bin eine eingefleischte Pazifistin und bin davon überzeugt, dass Kriege vollkommen entsetzlich sind, aber wer hätte das gedacht, dass gerade wegen dem Krieg ich zum ersten Mal nach Kiew reisen und dort leben, andere Länder besuchen würde, meine besten und verlässlichsten Freunde kennenlernen, zu einer echten Ukraine- Beschützerin werden – ihrer Sprache, Kultur und Geschichte, dass ich, im Großen und Ganzen, eine neue Welt für mich entdecken würde.
Nun, wo ich schon seit zweieinhalb Jahren nicht mehr zu Hause war und in meinem Land seit mehr als zwei Jahren der Krieg herrscht, kann ich sagen, dass es immer zwei Seiten gibt, auch im Krieg…
Der Krieg lehrt Menschen, den Verstand einzusetzen, patriotisch zu sein, die wahren Werte zu vertreten.
Der Krieg macht es sichtbar, wer du eigentlich bist, ob du in Zeiten der Not bereit bist, das eigene Ego anderen zuliebe zurückzustellen. Der Krieg verbindet Menschen, so dass sie aus ihren Hüllen rauskommen, bringt sie dazu, gemeinsam zu kämpfen. Und der Krieg verändert alles – die Menschen, die ganze Welt, alles ringsum.
Ich bin 16 Jahre alt, studiere an der Medizinischen Universität in Charkiw und seit mehr als sechs Monaten spreche ich ausschließlich ukrainisch. Es kommt vor, dass Leute nach meinem Herkunftsort fragen und wenn sie die Antwort hören, dann lachen sie zunächst und wiederholen ihre Frage noch einmal, erst dann, wenn sie begreifen, dass es die reine Wahrheit ist, wundern sie sich.
Unsere Familie kam 2014 nach Kiew, nicht nur der Krieg, Beschüsse und die ständige Lebensbedrohung  trieben uns fort. Von den Straßen von Donezk und anderen Städten und Dörfern ringsum verschwanden auf einmal ukrainische Fahnen, unsere Region wurde von Verrätern und russischen Soldaten okkupiert.

Also verließen wir unser neues Heim, ließen fast alles, was darin war, zurück, um zumindest zuhause, im eigenen Land, zu bleiben.  Aktuell sind Mitglieder meiner Familie ehrenamtlich tätig: Wir helfen den Binnenvertriebenen, also solchen Menschen wie uns selbst, Fuß zu fassen. In der Ukraine gibt es derzeit eine ganze Reihe von NPOs und gemeinnützigen Initiativen in dieser Richtung, die auf lokaler, nationaler und sogar internationaler Ebene agieren. Es gibt sogar ehrenamtliche Helfer, die vom Präsidenten ausgezeichnet wurden. Leider entstanden innerhalb von zwei Jahren auch in diesem neuen Bereich des gesellschaftlichen Lebens korrupte Systeme.

Maria Omeltschenko
Denn morgen war Krieg.

In diesem Jahr beendete ich das Medizinische Lyzeum. Ich wollte so gern in Kiew weiterhin leben und studieren, aber ich habe nicht mal die Papiere bei der Medizinischen Universität Kiew eingereicht, denn sie ist zu korrupt. Vielleicht ist es auch eine Folge des Krieges – die Erfordernis, den eigenen Überzeugungen treu zu bleiben?
Es gibt zur Zeit Dinge, die nur Vertriebene verstehen würden. Zum Beispiel, wenn man zur Post kommt, um ein Päckchen abzuholen, und von der einfachen Frage nach seiner Hausadresse überrumpelt wird, man fragt erst mal nach: Welche brauchen Sie denn? Denn es gibt jede Menge an Varianten: der Ort, wo man gemeldet ist (Dorf Pisky, nicht weit von Donezk, wie es in meinem Fall ist, in einem Haus, das es nicht mehr gibt), in einem Wohnheim in Kiew, wo meine Familie derzeit untergebracht ist und wohin ich immer wieder wie nach Hause komme, oder im Studentenwohnheim in Charkiw, wo ich derzeit studiere. Oder wenn das heiße Wasser im Studentenwohnheim abgestellt wird und einen stört gar nicht, denn man hatte sich vorher sowieso die Haare ein halbes Jahr lang mit eiskaltem Wasser im anderen Wohnheim waschen müssen.
Wenn man einen Karton/Tasche und womöglich gleich mehrere davon immer bei sich hat. Denn Vertriebenen/Fluchtlinge sind Menschen, die ein für alle mal verstanden haben, dass nichts für immer Bestand hat und Notfallsituationen keine Ausnahme mehr, sondern und für sehr viele zur täglichen Routine geworden sind. Deshalb, egal wo man auch ist, wo auch immer man hin geht, oder sogar wieder “umzieht”, soll man immer etwas, ein Stück Heim, was man aus dem damaligen, friedlichen Leben gern hatte, dabei haben: Fotos von Kleinen, ein Schmuckstück, das die Oma dir schenkte, eine Bluse deines längst verstorbenen Meerschweinchens, die du in der 7,.Klasse selbst gestrickt hattest, dein Tagebuch, das Lieblingsbuch (“Harry Potter”, zum Beispiel), Poster von der Wand …
Für mich persönlich hat das Umzugsphänomen – die “Umsiedlung” – eine etwas seltsame Bedeutung, da ich schon das vierte Jahr in Folge, immer in der Nacht zum 1. September irgendwohin umziehe. Das alles fing 2013 mit der lang erwarteten großen Wohnung in Donezk an. Dann 2014 gab es das Lyzeumswohnheim in Kiew und danach kam 2015 das Wohnheim, in dem wir als Familie nach der Flucht untergebracht waren und das viel bessere Lebensbedingungen hatte und schließlich das Uniwohnheim in Charkiw in 2016: all die Umzüge fanden in der Nacht zum 1. September statt!

Jetzt bleibt es das ganze Jahr spannend: wohin mein Schicksal mich in der Nacht zum 1. September 2017 bringen wird?
Auf die Frage der Freunde “Bist du schon Daheim?” – geben meine kleinen Schwestern (Taya – 10 Jahre alt, Alexandra – fast 4 Jahre alt) die Antwort “Ja, Zuhause!”, dabei befinden sie sich im Wohnheim, in dem unsere Familie schon seit einem Jahr untergebracht ist.
Für mich klingt das so absurd, in solchen Fällen sage ich: “Im Wohnheim, ja ich bin angekommen”…
Zu den Dingen, die nur Umsiedlern verständlich sind, gehören auch Situationen, in denen alle im Jahr 2000 geborenen Umsiedler, die dieses Jahr ihren Personalausweis erhalten haben, in der Adressenzeile „Ohne Anmeldung“ stehen haben. Man ist demnach einfach ein Obdachloser, ein Penner. Und wenn in dem Handytelefonbuch gegenüber der Nummer von alten Freunden, Verwandter, die dort geblieben sind, der Buchstabe „H“ steht und wenn man einen Anruf von solchen Nummer erhält, wechselt man schnell ins Russische, um die alten Beziehungen nicht zu gefährden.
Wenn man Freunde überall in der Ukraine hat: Kiew, Odessa, Lviv, Charkiw, Dnipro, den Donezker und Lugansker Regionen, etc., damit sind enge Freunde, Mitschüler, Lehrer gemeint, die in alle Himmelsrichtungen geflohen sind.
Manchmal lässt man schon die Hände hängen, man begreift plötzlich, wie entzweit man ist: zwischen zwei Sprachen, drei Orten, zwei Seiten des Kriegs. Denn sowohl hier als auch dort hast du Freunde und Verwandte, sowohl hier als auch dort hast du Liebe erlebt.
Es gibt aber ein „aber“: Für das Zuhause ist es unmöglich den Konjunktoren „sowohl.. als auch“ anzuwenden,. Und genau das ist das aussichtsloseste Merkmal zeitgenössischer jugendlicher „Umsiedler“.
Nach und nach fängst du an, wie es mal eine Freundin von mir ausdrückte, deren Familie ihr ganzes Leben lang von einer Stadt in die andere umzog, sich wie ein Kind der Ukraine3 zu fühlen, du sprichst schon wie selbstverständlich Sachen aus wie: “bei UNS in Kiew”, oder “in MEINEM Charkiw”, genauso wie du damals von Donezk gesprochen hattest…
Ja, ein Kind der Ukraine! Aber nicht nur, weil ich in verschiedenen Städten lebte. Sondern weil die Ukraine für mich ist das wichtigste ist: Hier lebt meine Familie, hier spricht man meine ukrainische Sprache, hier ist mein Heim, meine Freunde und meine Lieder.
Jetzt weiß ich genau: Es wird alles gut!

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Viktoria Puskar

Ich bin ein anderes Du. Verlust. Bogdan Kolesnik

Die Menschheit spielt Poker, dabei verlieren immer diejenigen, die an dem ganz großen Spiel gar nicht teilnehmen. Wir alle, ob wir das wollen oder nicht, sind Teile einer Verdauungskette: Die Stärksten verschlingen die Schwächsten, ohne vorher an ihnen gekaut zu haben.
Das Interessante daran ist, wie dieser Hunger bei den Meisten sich in einen Wunsch transformiert, alles  zu “beherrschen, dominieren, erniedrigen“. Die Mehrheit verspürt dabei überhaupt keinen Hunger, sie ist bloß gierig.
So benehmen sich unfähige Fischer – sie können auf normale Art und Weise keinen Fisch fangen, daher bedienen sie sich der Dynamitfischerei.
Ganze Völker sind von dieser Gier befallen, manche können sie geschickt verbergen, andere wiederum, vielleicht wegen einiger Besonderheiten in deren Mentalität, Geschichte oder aus anderen Gründen, können das nicht. Wenn man Pech hat und an die letztere dieser Spezies gerät, läuft man Gefahr, ein Teil seines Bauchs oder gar ein Glied zu verlieren.
КолесникMein Land ist wie ein stolzer Paralympiker mir abgebissenen Süd- und Ostgliedern seines Körpers. Hoch erhobenen Hauptes bleibt es noch stehen. Es hält aus der letzten Kraft durch und versucht sogar voran zu kommen.

Als Schüsse auf den Straßen ihrer Kleinstadt losgingen, zogen sie in unsere „schreckliche“ „feindliche“ Bandera-stadt. Die in Kinderzeichnungen eingefangenen Lichtreflexe an den Wänden der Plattenbauten aus Chruschtschows Zeiten fingen langsam an, abzublättern.
Ich sah das Mädchen, als es übermüdet und leer gemeinsam mit den Eltern die Wohnungstür ihrer neuen Wohnung aufschloss. In einer Hand hatte sie eine aufgeblähte Tasche, in der anderen einen schwarzen Backstein mit einer Kinderzeichnung drauf: Kleines Mädchen hält einen rosafarbenen Luftballon.
Diese Familie landete in einer unbekannten, weit von zuhause entfernten, Welt. Mich, einen Teenager, der mit seinem laut klirrendem Schlüsselbündel in der Hand durch das Treppenhaus zu seiner Wohnung lief, bemerkten sie gar nicht.
„Ich bin näher zur Pubertät als zu meinem Zuhause…“, sagte sie, als wir eines Abends gemeinsam im Treppenhaus rauchten. Damals nickte ich einfach, machte meine Kippe aus und ging nach Hause.
Ich habe Angst von fremden Gedanken. Wenn ich mir anschaue, was zurzeit um mich herum passiert, fange ich an, zu denken, dass die Drehbücher, die das Leben für uns bereithält, vollkommen absurd und stumpfsinnig sind. Ich weigere mich, so etwas zu lesen, geschweige denn, eine Rolle in diesem Theaterstück zu spielen.
Ihr Zimmer lag Wand an Wand mit meinem. Deswegen wachte ich jede Nacht mit ihr auf, als sie vom Tod und Hass träumte.
Einmal, sagte sie, an der Zigarette aus der Schachtel vom Vortag saugend, als wir uns am nächsten Abend an der gleichen Stelle wieder sahen, kam ich nachts ins Zimmer meines Vaters, um dort zu lüften… Seit er aus dem Krieg zurückgekommen ist, schläft er in Schutzweste und mit geladener Waffe neben sich.
Mit einem Pfeifen stieß sie eine Rauchwolke aus, schwieg eine Weile, zuckte zusammen und sprach sehr leise weiter:

– Er… Fuhr hoch… Richtete die Waffe auf mich…Ich… Ich wollte doch nur…
Sie lehnte sich an meinen verwirrten Körper und weinte.

Ich streichelte leicht ihre bebende Schulter, machte die Kippe aus und ging.
In der folgenden Nacht hat sie geschrien. Ich legte meine Hand an die Wand. Als sie sich beruhigte, hörte ich ihre Stimme:

– Hörst du mich?
Ich hörte, aber…
– Hörst du denn mich?..

Ich schwieg, denn ich wusste nicht wie ich ihr helfen könnte, ihr Leben wieder in die richtige Bahn zu kriegen.
Ihr Zuhause liegt weit weg. Während sie sich in einer ihr fremden Wohnung erschrocken umschaut, wird ihr Zuhause vom Kriegsgräuel aufgefressen.
Welt ist eine Waage. Schwere und Starke überwiegen Leichte und Schwache. Sie haben Macht, Waffen, sie sind sich ihres Rechtes sicher. Sie meinen, dass es ihr natürliches Recht sei, immer mehr zu bekommen.

Die Welt ist aber dem Mensch für die Liebe gegeben und nicht fürs Blutvergießen. Die Habgier hat allerdings in sehr vielen diese einfache aber die einzige Wahrheit getötet.

Ich bin ein anderes Du. Es ist doch völlig gleichgültig welches Geschlecht wir haben, wie alt wir sind, welcher Konfession angehören.
Wir alle leben im gleichen Haus, auch wenn in seinen verschiedenen Ecken. Die Erde dreht sich, im Weltall hört man unsere Schüsse, Gezetere und Hass nicht. Deshalb darf man nicht vergessen, dass wir vor allem dabei uns selbst ruinieren.
Das Universum ist riesengroß, also wird sich bei ihm nichts besonders ändern, wenn plötzlich ein Planet verschwunden sein würde.
Schöpfen und nicht zerstören!
Leuten die Möglichkeit geben, in ihren eigenen Häusern zu leben, ohne Angst vor Schüssen und dem Tod zu haben!
Lieben!

Sie wird es mit ihrem Leben hinkriegen. Ich bin dem sicher! Die Wunden jedoch, die ihre Seele abbekommen hat, werden höchstwahrscheinlich für immer bleiben.
Sie wird lächeln, die Wunden – schmerzen.
Sie wird lieben, die Wunden – schmerzen.
Sie wird von einem Ort zum anderen ziehen, aber… Ihr Zuhause wird sie nur einen Ort nennen, das kleine vom Krieg zerschmetterte Städtchen im Osten ihres zerfetzten Heimatlandes.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Viktoria Puskar

Scherben, überall Scherben… Artem Tschikaev

Artem Tschekaev
Und, wenn mich jemand hört, wird er mich verstehen? Wird er verstehen wollen?

Scherben, überall Scherben… die Bruchstücke meines Lebens. Sie fliegen auseinander wie die Splitter einer zerschlagenen Glasscheibe und teilen dabei mein Leben in „davor“ und „danach“.
Ich finde mich im Wunderland wieder, wie Alice, und höre auf, zu begreifen, wo die Realität ist, und wo das Abbild der eigenen Vorstellungskraft… Wenn ich mich nach hinten umsehe, scheint es mir, als hätte sich nichts verändert. Denn es hätte sich doch nicht alles so schnell verändern können. Unmöglich! Unmöglich? Oder vielleicht doch…
Erst jetzt beginne ich, zu verstehen, wie fragil die Welt ist, und dass schon eine einzige falsche Bewegung der Hand oder der Schreibfeder genügt, um dieses zerbrechliche Gleichgewicht zu stören, das wir „Frieden“ nennen. Alles in den Ausgangszustand zurückzuführen, in dieses friedliche Gleichgewicht, ist  hingegen eine große Aufgabe, der nicht jeder gewachsen ist.
Ich versuche, einzuatmen, mit der Luft meine Lungen bis auf den letzten Winkel aufzufüllen und begreife, dass jemand meine Brust wie mit einem Stahlreif zusammengedrückt hat, und die Luft nur in unförmigen Stücken in meinen Körper gelangt, die mich nicht sättigen oder zwingen können, klar zu denken. Davon wird mir schwindelig und die Fetzen meiner unzusammenhängenden Gedanken schwirren umher. Oder ist es vielleicht die vergiftete Luft, die es mir nicht erlaubt, in vollen Zügen zu atmen? Die Luft, die vergiftet ist mit Hass und Bösartigkeit, die um uns herum wirbelt und diese entrückte Aura erschafft,  die uns vernünftige Menschen in eine aufgebrachte und seelenlose Herde verwandelt. Von diesem Gedanken wird alles furchterregender.

Ich kneife die Augen zu und habe Angst, sie wieder zu öffnen. Bin das vielleicht gar nicht ich? Passiert das vielleicht nicht mit mir? Und vielleicht war überhaupt nichts mit mir und das war nur ein Traum… ein schrecklicher Traum…

Die Erinnerungen drehen sich im Kopf wie ein endloses Karussell: ein endloses Karussell eines endlosen Lebens. Zuhause, Schule, Freunde, Zuhause… Mein geliebtes Zuhause, wo ich geboren und aufgewachsen bin, wo ich gelernt habe, zu gehen, zu schreiben, zu lesen, zu lieben, zu fühlen… Ich liebe sehr mein Elternhaus, besser gesagt, mein Zuhause. Das Zuhause, das für immer unersetzlich ist. Warum und von wem wurde mir dieses Stückchen von mir geraubt und mein innerer Frieden zerstört?
Für einen Augenblick komme ich ins Grübeln, wer bin ich eigentlich? Vielleicht ein Staubkorn, das der Wind mit seinem warmen Atem verweht, oder vielleicht ein Stückchen des großen Universums, ohne welches die ganze Welt sich bis in die Unkenntlichkeit verändern kann? Wo ist mein „Ich“? Wo ist mein Platz in dieser hässlichen, schrecklichen, bösen und gleichgültigen Welt, die so sehr in Liebe und Frieden leben will?
Jetzt… Jetzt… Ich wiederhole oft dieses Wort und es verliert schlicht seine Bedeutung. Nochmal: Jetzt… Was ist das „Jetzt“? Es ist, als sei es in der Luft  erstarrt, sich langsam in der Stille auflösend… Oftmals eilen wir irgendwohin, aber achten nicht auf simple Dinge. Kann es vielleicht sein, dass der Ort, zu dem wir unser ganzes Leben eilen, rennen und kriechen, hier, in genau diesem Abschnitt des Weltalls geblieben ist, inmitten dieser Menschen ohne Seele und Verstand?
Schließlich sammle ich meinen Mut und öffne die Augen weit, um keinen noch so kleinen Teil der Welt zu übersehen. Und wieder umgibt mich die Wirklichkeit mit einem Flammenwind, der den Verstand für immer zerstören, meine verbliebenen Menschlichen Gefühle ausradieren, mit seinem bösartigen Hauch ersticken kann. Und davon will man schreien!!!
Aber wer soll mich hören? Wer will mich hören? Und, wenn mich jemand hört, wird er mich verstehen? Wird er verstehen wollen?
Hier bin ich, in der neuen Welt, die „danach“ heißt. In einer anderen Stadt, inmitten fremder, stets eiliger Leute, die mich nicht bemerken und in dieses unklare „morgen“ laufen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wo das ist und was das „jetzt“ ist. Und du bist dieses „hier und jetzt“, deswegen kann ich, schließlich, in vollen Zügen atmen und diese irrsinnige vergiftete Luft filtern, die mich mit neuen Gefühlen und Emotionen füllt, die in meiner Seele das Gefühl der zauberhaften Liebe erweckt, die es vermag, diese Welt zu einer friedlichen zu verwandeln!!!

Übersetzung aus dem Russischen: Marc Vaisband

Fremd sein unter? Kostjantyn Tanzjura

Das Mädchen versucht aus allen Leibeskräften, sich in den überfüllten Wagon der Metro hineinzuquetschen. Am Rande notiert sie das fast schon vertraute “Vorsichtig, die Türen schließen sich!”, unter ihren Rippen spürt sie einen fremden Ellbogen. Das Einatmen fällt immer schwerer, der menschliche Strom trägt sie fast aus dem Wagenraum heraus, es gelingt ihr allerdings im letzten Moment, sich an der Haltestange festzuhalten. Nur nicht los lassen. Nicht los lassen, denn…
Танцюра

Noch vor zwei Jahren träumte die damals 16-jährige Nata von einer Reise in die Hauptstadt. Täglich aus einem unruhigen Schlaf erwachend, sah sie durch das vom Kohlenstaub verrußte und geschwärzte Fenster, durch das sich die Sonnenstrahlen ihren Weg bahnten. Lichtreflexe sprangen an die Wände, fielen in ihr langes dunkles Haar. Sie freute sich, wie ein Kind, öffnete der Welt ihre himmlisch blauen Augen, sprang aus dem Bett und lief auf die Straße, wollte alles ringsum umarmen. Es schien, als ob alles ewig so bleiben würde.
«Töchterchen, wir müssen jetzt los…» Alles, was danach passierte, ist schwer zu vergessen. Die Stadt wurde von der Angst eingehüllt. Ihre Mutter zog sie an der Hand durch die leeren Straßen, flehte, schneller zu gehen. Nata warf ihren Blick auf die geschlossenen Fenster der Hochhäuser, sie versuchte zu verstehen, was jetzt geschieht. Aber niemand gab ihr die Antwort.
Die Hand tat unerträglich weh. Auf dem Handgelenk blieb ein riesiger blauer Fleck. Aber das Mädchen verstand alles. Nachdem der Vater die Familie verlassen hatte, wich ihre Mutter ihr nicht von der Seite, auch dann nicht, wenn ihre Sorgen unbegründet waren. Sie hatte ihrer Tochter alles, was sie ihr geben konnte, gegeben, und jetzt fürchtete sie, das Wertvollste zu verlieren. Sogar jetzt, an der Bushaltestelle stehend, wendete sie ihre Augen nicht von Nata ab. Sie schafften es, einzusteigen. Die Türen schlagen schmerzhaft auf die Beine auf, die Mutter schubste sie vorwärts und legte ihre Handfläche auf das kalte Eisen. “Nicht loslassen.”– hört sie vom Hinten .“Nicht loslassen, denn…” Die letzten Wörter verschluckt das Heulen des alten Ikarus-Busses. Sie fahren los. Im Salon – Stille. Mit jedem Kilometer verlor das Mädchen den Glauben daran, dass sie jemals hierher zurückkehren wird.
Die langersehnte Hauptstadt empfing sie mit unendlichen Korridoren voll von Warteschlangen, die Mutter versuchte aus aller Kraft, einem in schwarz gekleideten Mann etwas zu erklären, der aber breitete nur unbeholfen seine Hände aus. Die Mutter kam zu Natа und umarmte sie, als sei es das letzte Mal. Ihr ganzer Körper zitterte. Damals übernachteten sie zum ersten Mal im Bahnhof.
Erst nach zwei Wochen gelang es ihnen, Flüchtlingsstatuszu erhalten, als sie schon ihr Zeitgefühl verloren und sich an das Übernachten in den Treppenhäusern der Kiewer Hochhäuser gewöhnt hatten. Nach einigen Wochen schien es so, als ob das Leben langsam in geordnete Bahn kommen würde, bis Nata in die neue Schule gehen musste, in die Abschlussklasse.
Das Mädchen fühlte sich in ihrer Heimatstadt nie fremd und versuchte niemals, zum Zentrum der Aufmerksamkeit zu werden.
Aber hier war alles ganz anders. Sie hatte sofort verstanden, dass dieses Jahr, das sie im Freundeskreis zu verbringen träumte, die hunderte Kilometer von hier entfernt geblieben waren, für sie wohl das schwerste Jahr ihres Lebens werden würde. Der einzige Schimmer am Horizont war Katja. Hellblond, mit der Augenfarbe wie frisch aufgebrühter Kaffee, unterstützte sie Nata immer, lud sie zu sich nach Hause ein, stellte sie ihrer Mutter vor. Nach einiger Zeit freundeten sich auch ihre Familien an. Ein halbes Jahr später stellte man bei Katja Krebs im Endstadium fest. Trotz allem Flehen und Weinen ihrer Mutter verzichtete sie auf eine Behandlung. Die letzten Monate vergingen für Katja viel zu schnell. Zur Beerdigung ist Nata nicht gegangen, weil sie genau wusste: das Letzte, was ihre Freundin sehen wollen würde, waren ihre Tränen.
Innerhalb des folgenden Jahres verwandelte sich ihre Heimatstadt in Ruinen. In den Nachrichtenberichten sah sie immer wieder die zerstörten Gebäude und Geschossschlaglöcher in den leeren Straßen der einst majestätischen Stadt. Der Donezker Flughafen existierte nicht mehr. Das Stadion, das einst vor Emotionen explodierte, wurde zu noch einer zufälligen Zielscheibe und verwandelte sich in die moderne Variante des Kolosseums Nata engagierte sich, versuchte allen zu helfen: Denen, die  dort geblieben sind und denen, die auf der Flucht vom Krieg waren, wie sie selbst.
Der Krieg. Jetzt, nach einem Jahr, war sie im Stande, selbst auf die Frage zu antworten, die sich ihr damals in der Mitte der menschenleeren Straße gestellt hatte. Der Krieg, den wir bis jetzt ganz anders zu nennen versuchen 1, als ob davon die Herzen derer, die uns schützten, aufhören würden, stehenzubleiben. So als ob nur diese drei Buchstaben zur der Säule werden, die die Geschosse anhält. Diejenigen, die die Hölle gesehen haben und zurückkehren, werden nicht im Zink, sondern in den langen Korridoren begraben. In den gleichen Korridoren, in denen ihre Mutter vergeblich darum flehte, etwas möge für ihre Tochter und sie getan werden.
Der Krieg, der uns entfremdete.
Sogar hier, in diesem geschlossenen Raum, unter Tausenden von “Seinigen”, das Gleichgewicht zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu halten versuchend, ist es das Wichtigste, nicht zu fallen. Den Kopf zum Licht am Ende des Tunnels zu heben und zu hören, “Liebe Passagiere, bitte halten Sie sich an der Haltestange fest.»

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Viktoria Puskar

Viktoria Lymar

Viktoria Lymar
Viktoria Lymar

Schülerin auf einem Gymnasium in Kreminne, einer Stadt in Luhansk Region. Eine Ukrainerin mit einem aktiven Lebensstil und Ambitionen eines Führers. Ich bin eine Patriotin meines Landes, und helfe meiner Heimat mit den Taten, und nicht nur mit den Worten, sich zu erneuern und stärker zu werden.

Ich mag Tanzen und besuche ein Theaterstudio. Auf der Schule beschäftige ich mich mit ehrenamtlichen Tätigkeiten . Oft verbringe ich den Sommer in einem der Aktivistenlager.

Mein Leben gleicht einem Wirbelsturm der Ereignissen, neuer Erfahrungen und harter Arbeit, die nötig ist, um meine Träume zu verwirklichen.

Folgend meiner inneren Überzeugung, wurde ich zu einer Kandidatin für die Mitgliedschaft bei der Minor Academy of Sciences of Ukraine. Nachdem ich den regionalen Wettbewerb der Forschungsarbeiten unter den Schülern gewonnen habe, bekam ich die Einladung zu der dritten Stufe des Wettbewerbs in Kiew. Die Minor Academy of Sciences of Ukraine bot mir an, an der Sommerschule für Jugendliche “Dialog in Aktion” teilzunehmen. Es war eine echte Schule des Lebens, wo ich viele notwendige und fürs heutige Leben relevante Kenntnisse und Erfahrungen gesammelt habe. Unsere Trainer lassen uns auch außerhalb der Schule nicht aus der Acht. So haben sie uns von dem Projekt “Ich bin ein anderes Du” erzählt, damit wir keine Möglichkeit verpassen, uns weiter als Persönlichkeiten zu entwickeln.

Ich bin in der 11. Klasse. Ich träume davon, an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kyiw zu studieren und mich auf internationalen Beziehungen zu spezialisieren. Jeden Tag komme ich der Verwirklichung meiner Träume einen Schritt näher – durch harte und fortdauernde Arbeit.

Oksana Komiakova

Oksana Komiakova
Oksana Komiakova

Geboren bin ich in Stachaniw, Luhansker Gebiet. Jetzt ist meine Heimatstadt unter der Besatzung russischer Söldnern.

Als wir in der Stadt die ersten Explosionen gehört haben, sind wir mit der ganzen Familie nach Charkiw geflohen. Bevor wir uns einen festen Wohnsitz in der Stadt gefunden haben, mussten wir mehrmals umziehen.

Das, was jetzt in meiner Heimat geschieht, lässt mein Herz schmerzhaft bluten. Meine Gefühle drücke ich in der Form von Gedichten aus. Übrigens, habe ich in meinem Werk die Zeilen aus meinen eigenen Gedichten miteingefügt.

Ich träume von der Veröffentlichung meines eigenen Gedichtbandes. Ich bescheftige mich sehr viel mit der Erziehung meiner jungeren Schwester.  Sie ist erst 4 Jahre alt, aber wir haben mit ihr schon ein Gedicht von Taras Schevchenko, “Das Kirschengarten neben der Kate“, auswendig gelernt, was für eine 4-jährige eine große Leistung ist!

Im Februar 2016 nahm ich am Wettbewerb “Sprachmarathon” teil, und seit dem beschloß ich auch privat ausschließlich ukrainisch zu sprechen. Ich glaube fest daran, dass die Ukraine, trotz aller Hindernisse, ein starker, wohlhabender europäischer Staat wird.

Denis Afendikov

Denis Afendikov
Denis Afendikov

Ich bin 16 Jahre alt. Geboren bin ich in Donbas, in Gorliwka. Dort habe ich 14 Jahre lang gelebt und zur Schule gegangen. Jetzt lebe ich in Kyiv.

Meine Hobbys : Tanzen, Judo, Tourismus und Heimatsgeschichte.