Ich bin du

Er. Davyd Gasparjan

Jeden gottverdammten Tag ist es dasselbe. Er stand noch in der Dunkelheit, schlich lautlos durch den schmalen Gang zwischen seinem alten Sofa und Vaters Matratze, die auf dem Boden lag, und schritt in die Küche. Kaum etwas interessierte den Jungen außer Stille, Ruhe und Zeitschriften. Ja, die Zeitschriften. Aber er konnte seine Sammlung, die über hundert verschiedene Ausgaben betrug, nicht erweitern.  Er hatte nur drei Hefte mit. Nicht mehr und nicht weniger. Nur drei. Sein persönlicher Schatz.

Er. Davyd Gasparjan
Er. Davyd Gasparjan

Der Vater wird noch lange schlafen, denn er kam erst vor anderthalb Stunden nach Hause. Er ließ wieder mal seine Stiefel in der Mitte des Flures fallen. Der Junge nahm im dämmernden Licht seine schweren Schuhe und stellte sie leise neben der Tür; erst dann konnte er sich in absoluter Ruhe der Arbeit widmen, die gestern liegen geblieben ist. Er würde nicht schlafen, wenn es nur ginge. Er würde weder essen, noch trinken, noch atmen. Er würde am liebsten nur seine Seele sein. Und diese Seele würde er jede Minute füttern – langsam, ruhig, bedacht, dennoch unaufhörlich. Er bräuchte keine Pausen. Er saugte die Information so intensiv auf, als ob er ohne sie ersticken würde, als ob sein Hirn keinen Sauerstoff, sondern einen Gedankenstrom brauchte, der wie ein wilder Blitz in seinen ganz gewöhnlichen Kopf rauschte. Und nun tat es genau das.
Wer ist dran? Böll. Der Nachbar entpuppte sich als ein sehr lieber Mensch: Er hat ihn gleich am ersten Tag in seine Wohnung rein gelassen und erlaubte, jedes Buch aus seiner großen Bibliothek zu nehmen. Der Junge war danach ziemlich oft dort. Was aber dieses Buch betrifft… Eine ziemlich langweilige Geschichte, voll von unnützen, viel zu unpraktischen und doch so wundervollen Details. Das Universum mag wissen, wie dieser verfluchte Böll es überhaupt vermochte, so zu schreiben. Und das Blödeste dabei war, dass es einen nicht mehr los ließ. Jedes Mal verspürte er den Wunsch, in jenem kleinen Zimmer auf dem Hocker zu sitzen, gegenüber von dieser seltsamen, dabei aber sogar für ihr Alter recht attraktiven Frau namens Pfeiffer. Was erzählt sie da? Vielleicht sind ihre Sorgen noch schlimmer, wer weiß.
Er sprang auf. Er hatte schon wieder vergessen, zu essen und ließ die Arbeit im Haushalt unerledigt liegen. Von gestern blieb nur noch wenig Essen übrig, er schaute die kleine Portion Buchweizenbrei mit ein Stück Hähnchen nicht einmal an. Ihm ist übel, da er seit gestern nichts gegessen hatte. Und jetzt muss er zur Schule. Wie selbstverständlich steckte er die Hand in Vaters Hose, nahm dort einige kleine Geldscheine raus, wobei er seine Bedürfnisse sehr knapp kalkulierte, schob Bücher und Hefte in den Rucksack und rief sich aus dem Gedächtnis den heutigen Stundenplan in Erinnerung. Er hatte immer etwas vergessen, aber dies hat ihn kein einziges Mal dazu bewogen, sich rechtzeitig vorzubereiten.
Er war schon in der Gasse, als es ihm klar wurde, dass er die Tür offen gelassen hatte. Er kehrte um, rannte hastig die rutschigen Stufen hinauf und wäre dabei um ein Haar hingefallen. Jedoch schaffte er es noch gerade, sich am Geländer festzuhalten und so das Gleichgewicht zu bewahren. Nachdem der Schlüssel zu letzten Mal umgedreht war, konnte er beruhigt zur Schule gehen, wenn man die zehn Minuten Verspätung außer Acht lässt. Es würde nicht gut enden.
Er kam an, als es noch zehn Minuten bis zum Ende der ersten Stunde waren. Noch ein wenig Ruhe. Er mochte die Korridore seiner Schule. Sie waren ruhig, aus dem bewölkten Himmel kaum beleuchtet, leer und absolut friedlich. Kein Krach, kein Schrei, überhaupt kein Ton. Solche Minuten gaben ihm einen kleinen, kaum bemerkbaren aber doch so wichtigen Energieschub.
Immer wenn er in der Klasse auftauchte, begannen die anderen, Grüppchen zu bilden und auseinander zu gehen. Er setzte sich seelenruhig neben ein Mädchen, das gelegentlich mit ihm sprach. Diesmal schwieg sie.

„Warum ist es so still?“, fragte er leise.
„Sie hat nach dir gesucht. Sie fürchtete, du hättest wieder beschlossen…“

„Beschlossen, von hier weg zu gehen.“
„Genau“, antwortete sie, „Sag mal ehrlich, hast du wieder nicht geschlafen?“
„Kaum.“
„Du schadest doch dir selbst. Vielleicht ist die Idee mit dem Psychologen gar nicht mal so schlecht?“
„Am Schlimmsten schadete ich mir selbst, als ich einwilligte, hierher zu ziehen.“
„Hier bist du in Sicherheit.“
„Aber dort bin ich zu Hause. Und mein Leben ist das Letzte, was mich gerade interessiert.“
Sie streckte die Hand zu seiner Schulter und wollte ihn leicht berühren, aber er schreckte reflexartig zurück und fasste ihre schmalen Finger mit seiner festen Hand.
„Ist doch alles ok, was hast du denn?“, – sie war sehr verängstigt.
„Rühre mich nicht an.“
„Hände weg von ihr, du Pfeife!“

Diese verdammten Retter sind immer da, wenn es um ein hübsches Mädchen und einen aggressiven Jungen geht. Er schaffte es nicht einmal sich umzudrehen, als er mit einem präzisen Schlag auf die Augenbraue auf den Tisch hingeknallt wurde. Das Blut bahnte sich einen Weg zu seinem Auge und verdeckte es so, dass er nichts sehen konnte. Er versuchte sich zu umdrehen und aufstehen und – bekam noch einen Schlag in den Bauch. Komplett niedergeschmettert fiel er auf den Boden und versuchte außer dem Pulsieren in seinem Kopf noch etwas um sich herum wahrzunehmen. Er spürte keinen Schmerz, lediglich ein Unvermögen aufzustehen und seinem Gegner endlich ins Gesicht zu schauen. Das Mädchen schrie, man solle ihn in Ruhe lassen.

„Na, wie gefällt dir das? Hier gibt es weder humanitäre Hilfe, noch liebe Soldaten und auch keine Idioten, die dich für ein Opfer halten!“

Na, wie gefällt dir das?
Na, wie gefällt dir das? Hier gibt es weder humanitäre Hilfe noch liebe Soldaten…

Der Vater kam erst dann an, als er bereits beim Psychologen war. Er, das Mädchen, sein Vater, der Typ und der Psychologe. Er konnte sich nicht erinnern, wie er dorthin gelang. Vielleicht wollte er sich nicht daran erinnern.

„Du bist ein unmögliches und undankbares Miststück! Diese Menschen haben für dich so viel getan, sie haben uns so sehr nach dem Umzug geholfen und du…“

Das Mädchen weinte leise. Nachdem sie das Zimmer betraten, starrte sie der Junge murrend an, ohne seinen Blick abzuwenden. Es hat bereits aufgehört zu bluten. Dem Psychologen war es offensichtlich egal, wie alles ausgehen wird. Der Vater drehte durch. Und er… Er wollte nur seine Ruhe.

„Bring mich zurück nach Hause. Weit weg von diesen Biestern.“
„Was sagst du?“, der Vater war schockiert.
„Ich sagte, ich muss zurück nach Hause. Dorthin, wo meine Mutter starb. Dorthin, wo die Schlacht war. Dorthin, wo ich hingehöre!“

Sein letzter Aufschrei füllte das Zimmer und hallte mit voller Wucht durch die Flure. Wahrscheinlich würde jeden gottverdammten Tag immer nur dasselbe geschehen.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Anna Olshevska

Oleg Kyba

Oleg Kyba
Oleg Kyba

Ich bin  am 17.11.1999 geboren. Seit dem Sommer 2014 lebe ich in Berdytschiv, Zhytomirer Gebiet.

Vor dem Krieg habe ich in der Stadt Tores, Donezker Gebiet, gelebt. Neben der Schule drehe ich eigene Videos, treibe Sport, höre gerne Rock Musik.

In der Zukunft möchte ich ein Programmierer werden.

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Bogdan Konotopzev

Bogdan Konotopzev
Bogdan Konotopzev

Meine Hobbys: Ich mag Golf spielen. Golf ist ein Sport für Männer und Frauen,  der eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung gibt und den Körper in guter Form hält.

Ich mag auch Leichtathletik, weil ich die Bewegung liebe. Ethno-Musik (Musik verschiedener Völker, zum Beispiel, afrikanische) und Malerei interessieren mich auch. Mein Lieblingskunstmaler ist El Greco.

2013 habe ich an dem Quizz-Spiel “Die Klügsten“ teilgenommen. Zweimal – in 2014 und 2015 – nahm ich an dem Programm der Sommerschule „International house“ in Großbritannien teil, und einmal, vom 15-ten bis 26-ten August 2016, an der Bildungsreise für Jugendliche in Polen, die eine Fortsetzung des Projekts „Der Dialog und die Versöhnung in der Ukraine” darstellt.

Seit zwei Jahren arbeite ich ehrenamtlich bei “Station Kharkiv” – einem Hilfsprojekt für die Menschen aus Kriegsgebieten in der Ukraine, und auch bei den Projekten für Binnenflüchtlingskinder helfe ich freiwillig als Übersetzer für ausländische Gäste.

Ich möchte glücklich sein und in einer Welt leben, wo die Menschen um mich herum auch glücklich sind.

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Andrij Iltschenko

Andrij Iltschenko
Andrij Iltschenko

Ich bin 16 Jahre alt. Bis zum Sommer 2014 habe ich mit meiner Mama in Altschevsk, Luhansker Gebiet, gelebt.

Jetzt lebe ich in Balaklea, Kharkiver Gebiet, und besuche dort 11-te Klasse. Ich mag Musik, spiele selbst Gitarre, mag auch Basketball.

Ich würde gerne in Europa studieren. Ich schätze Menschen, die immer die Wahrheit sagen, und bevorziehe Direktheit in Beziehungen. Ich träume von einer Welt ohne Kriege.

Mein Essey

Mikhajlo Vasiljev

Mikhajlo Vasiljev
Mikhajlo Vasiljev

Ich bin am 28.03.1998 geboren. Zur Zeit studiere ich an der Kyiiwer Nationalen Universität für Theater, Kino und Fernsehen, die den Namen von Ivan Karpenko-Karyj trägt. Mein Fachgebiet ist die Dramaturgie von Film und Fernsehen.

Neben dem Studium beteilige ich mich an verschiedenen kreativen Aktivitäten: ich schreibe prosaische Werke, Drehbücher, Gedichte und Liedertexte. Die meisten meiner Hobbies sind verbunden mit der Kreativität. Ich mag auch Spiele, vor allem solche, die schauspielerische Talente erfordern. Außerdem spiele ich seit sechs Jahren Schlagzeug und habe mich an drei Musikgruppen beteiligt.

In meiner Freizeit lese ich gerne Bücher oder schaue Filme an. In Zukunft möchte ich einen Job finden, wo ich mich als dramatischer Schriftsteller realisieren könnte. Ich träume davon, mit weltbekannten talentierten Regisseuren und Schauspielern zusammen zu arbeiten.

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Lubov Jerschowa

Lubov Jerschowa
Lubov Jerschowa

Ich heiße Lubov Jerschowa. Ich bin 18 Jahre alt und lebe in Charkiv. Ich studiere an der Kharkiv National University of Economics, Fachbereich Verlag und Druck. Meine Lieblingsbeschäftigungen sind Schreiben, Kochen, Lernen, Photographieren, mich mit Menschen unterhalten. Ich versuch so zu leben, dass ich das Maximum aus einem Tag raushole, denn Zeit ist das Kostbarste, was wir haben.
Glücklicherweise hat der Krieg in der Ostukraine mich und meine Familie nicht berührt, allerdings kenne ich Menschen, die von den Krieg gelitten haben. Ich finde, dass diesem Thema alle ihre Aufmerksamkeit schenken sollen, denn zur Zeit dort leiden Menschen und wer, wenn nicht wir wird ihnen denn noch helfen?

Ich hoffe sehr, dass mein Aufsatz „Nur ein paar hundert Kilometer entfernt“ die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Probleme der Umsiedler (Flüchtlinge) lenken wird. Möglicherweise hilft mein Aufsatz den Unbeteiligten zu verstehen, wie schwer es ist, das Leben neu zu beginnen.

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Kostjantyn Tanzjura

Kostjantyn Tanzjura
Kostjantyn Tanzjura

Ich bin 22 Jahre alt, studiere im Institut für Journalistik. Ich interessiere mich für Politik, Wirtschaft, neue Technologien. In meiner Freizeit lerne ich Sprachen, lese viel, spiele gerne einige Musikinstrumente, schreibe Gedichte, mache Sport.
Im 2012 half ich bei der Fußball Europameisterschaft und 2013 bei der U 16-Europameisterschaft im Basketball aus als ehrenamtlicher Helfer.
Ab 2014 verfolge die Geschehnisse in der ATO Zone, in der zeit vom Februar bis August 2016 unterhielt ich mich sehr viel mit ehrenamtlichen Helfern und auch mit Kombattanten.

Hier ist mein Essay.

Eine Erzählung über mich. Svitlana Virtolina

Und ich spüre, dass mein Herz wieder singt!
Dass in deiner Nähe
Das Leben wieder beginnt!
Wieder beginnt!
Okean Elsy


Die Vorahnung von Veränderungen zum Besten im Leben bezaubert und macht uns immer glücklich.
Jeder freut sich über regenbogenfarbige Perspektiven, neue einflussreiche Bekanntschaften, unerforschte und herbe Gefühle, welche
inspirieren und der Muse zuflüstern: “Wache auf, Liebes!” Aber mit mir ist das nicht geschehen. Alles passierte irgendwie heftig schrill. Es war, als ob man mich aus meiner naiven, rosa etwas kindischen, Realität herauszog und zum Erwachsenwerden zwang. Mein Leben fängt buchstäblich neu an.
Seit meiner Kindheit liebte ich es abgöttisch, auf dem Fensterbrett zu sitzen, während es hinter dem Fenster stark regnete. Niemals erschreckten mich Blitze oder Donnergrollen, da ich fest überzeugt davon war, dass mein Haus meine Festung ist.
Svitlana VirtoliaMein Zimmer war schon immer ein besonderer Ort: überall hatte ich die Zeugnisse hängen, Fotografien, und an der Decke hängte ich fleißig die Fluoreszenzsternchen aus. Aber irgendeiner wahnsinniger Marionettenspieler hatte die kindlichen Bewegungen meiner Seele buchstäblich aufgefasst, und schon am 24. August 2014 konnte ich wirklich durch das Dach meines Hauses den Sternenhimmel beobachten. Ein Geschoss hatte alles zerstört, das ich so sehr hegte und hütete. Zum Glück war meine Familie zu jener Zeit weit weg von diesen Ereignissen und es hatten nur unsere Sachen gelitten.
In dem Moment habe ich auf einmal verstanden, dass man an materiellen Dingen nicht allzu sehr festhalten sollte, denn es könnte das Schicksal ins Spiel kommen und dir alles weg nehmen, ohne dich um Erlaubnis zu bitten. Es hat meine Einstellung zur Familie geändert, denn als ich auf dem neuen Ort landete, habe ich verstanden, dass sie das teuerste sind, das ich in meinem Leben habe, die einzigen, die meinen Schmerz so feinfühlig nachvollziehen können.
Meinen Schulabschluss machte ich auf ukrainischem Territorium, ich wurde von der Universität in die Fakultät aufgenommen, von der ich seit meiner Kindheit immer träumte. Aber schon seit zwei Jahren war ich nicht in Ilowajsk. Meine Vergangenheit stört mich nie, mich weiterzuentwickeln und ich verberge meine Wurzeln nicht. Menschen sind manchmal beunruhigt, dass sie mir mit irgendwelchen Fragen über den Krieg in meiner kleinen Heimat wehtun könnten. Aber in mir ist schon alles verbrannt, übriggeblieben sind nur die Ruinen meines Ich in der Vergangenheit.
Ich habe wieder gelernt, zu lächeln, mich über jede Kleinigkeit zu freuen, vorwärts zu gehen und die gestellten Ziele zu erreichen. Und alles wäre gut, mein Leben fängt doch von vorne an. Der Gedanke, dass jemandes Leben täglich für immer erlischt, tut mir allerdings unerträglich weh.
Denn es wird nie wieder anfangen.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Viktoria Puskar

Ich bin ein anderes Du. Oleg Kyba

Oleg Kyba
Was, wenn es mit euch geschehen würde?

Was, wenn es mit euch geschehen würde? Was, wenn ihr in eine andere Stadt umziehen, auf eine neue Schule gehen müsstet, in der euch alles ganz unbekannt und fremd wäre: Gänge, Klassenzimmer, Lehrer, Mitschüler?
Warum passierte es mit mir, meinen Eltern, meinem jüngeren Bruder? Warum blieben meine Freunde dort, ich aber wurde zu einem Flüchtling, einem Umsiedler? Warum wandte sich alles, was ich an der neuen Schule und in der neuen Klasse machte, gegen mich? Was war falsch mit mir? Meine Mutter sagte, dass ich die Ursache in mir suchen sollte.
Ich suchte. Dachte nach. Analysierte.
Erinnerungen…
In meiner alten Schule, in einer kleinen Bergarbeiterstadt, spürte ich am 9. Mai eine Veränderung in der Klasse, als alle mit einer Georgschleife in die Schule kamen und ich mich weigerte, das zu tun.
Ich erinnere mich, wie ich das Bild eines russischen Panzers auf einer Pinnwand bei VKontakte sah, und darunter den Kommentar eines meiner Freunde: „Hurra! Die Unseren sind da!!!“.
Die Furcht, die ich in Omas Gemüsegarten spürte, als mein Vater Schüsse hörte und mich in eine Grube schubste, die wir gerade gemeinsam aushoben, und mir sagte, dass ich mich ducken und stillhalten sollte.
Furcht – das ist, wenn in deiner Heimatstadt jeden Tag jemand umgebracht wird.
Ich höre das Weinen meines Bruders, als er das Rasseln einer Schnellfeuerwaffe in der Nähe unseres Hauses hörte.
Eines Tages brachte mein immer ausgeglichener und ruhiger Vater Medikamente, Bandagen, Spiritus, verschiedene Sorten von Getreide, Konserven und Streichhölzer mit nach Hause und sagte: „Das ist für den Fall, wenn es ganz schlimm wird.“ Seitdem stand ein mit warmen Sachen, Medikamenten und Wasservorrat vollgepackter Rucksack an der Eingangstür unserer Wohnung.
Dann beschlossen wir, doch nicht zu warten, bis es ganz schlimm wurde. Wir verließen die Stadt. Mutter weinte die ganze Zeit, als sie die Sachen packte; im Bus und im Zug weinte sie immer noch. So wurde ich zum Flüchtling.
Die Schule…
In diesem ersten Kriegsherbst wollte ich inständig endlich wieder zur Schule zu gehen. Ich wollte wieder spüren, dass ich genauso wie die anderen bin. Einen derart starken Lerndrang hatte ich bis dahin nur am Tag meiner Einschulung verspürt.
Meine Eltern wiederholen ständig, dass ich gut lernen muss, um aus eigener Kraft an eine Universität oder eine Fachhochschule zu kommen. „Es liegt alles in deiner Hand. Wir haben niemanden, der uns hilft.“ Ich verstehe alles. Ich gebe mein Bestes. Allerdings hängt nicht alles nur von mir ab. Paradoxerweise wurde ich dort, in meiner Heimatstadt, zu einem Fremden, aber auch hier wurde ich immer noch nicht anerkannt.
Freunde…
Mit meinen alten Freunden spiele ich auch jetzt noch ziemlich oft Online-Spiele, wir unterhalten uns über Skype: Fußball, Spiele und die Olympiade sind zurzeit die Hauptthemen. Vor kurzem fragte mich meine Mutter, ob ich zurück nach Hause wolle. Ich erwiderte, dass die Frage sinnlos sei, denn wir würden ja sowieso nicht zurückkehren. Ehrlich gesagt wäre ich schon gerne nach Hause zurückgekehrt. In das alte, friedliche Leben. Aber sozusagen nur als eine Testfahrt, für ein paar Tage. Ich möchte nicht mehr in mein altes Leben zurück. Es gibt weit interessantere Dinge.
Über die bedeutsamen Dinge…
Habe ich Freunde? Ja, aber nicht aus der Schule. Irgendwie hat es nicht sein sollen. Mit meinen neuen Bekannten gehe ich spazieren, zum Fitness, zum Schwimmen, unterhalte mich über Alltagssachen. Ich habe gelernt, dass es einfach ist, viele Bekannte zu finden. Freunde zu finden dauert viel länger.
Es bringt nichts, sich wegen einer anderen Person zu verstellen, der du von vornherein nicht sympathisch bist. Man soll Menschen so nehmen, wie sie sind. Und das ist auch gut so! Das Leben ist ein Bild, in das jedes Treffen, jede Bekanntschaft, jedes Ereignis neue Farben bringt.
Ich denke… analysiere…
Ich sah und spürte den Krieg. Ich spürte den Schmerz und das Leid meiner Familie. Ich verlor und fand Freunde. Ich liebe Fußball. Spiele gerne Online-Spiele. Höre Imagine Dragons. Ich werde bestimmt Programmierer werden. Ich liebe meine Heimat und bin stolz darauf, Ukrainer zu sein. Ich bin sicher, dass meine Eltern und mein Bruder eines Tages auch stolz auf mich sein werden.

Ich bin wie Du. Ich bin ein anderes Du.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Viktoria Puskar

Der Sommer 2014… Andrij Iltschenko

Ильченко
„Ist dies wirklich der einzige Weg, das Erwünschte zu bekommen? Warum können Menschen nicht einfach miteinander reden?“

Der Sommer 2014 war genau der Sommer, auf den ich seit dem Einbruch des Winters sehnsüchtig wartete. Ich lernte in der Schule so fleißig, wie es mir nur möglich war. Endlich war die 8. Klasse vorbei.
Mit einem stolzen Lächeln auf ihren Gesichtern warteten auf mich daheim meine Mutter und meine Oma. Noch an der Haustürschwelle wurde ich von meiner lieben Oma in die Arme geschlossen. Sie war so stolz auf mich! Dann ging ich in den Hof raus und das erste, was ich sah, war ein Fahrrad, rot, wie eine reife Kirsche. Daneben stand mein Opa:
– Andrjuscha, du hast dieses Schuljahr ausgezeichnet beendet. Also wird dein Sommer viel spannender, als du es dir erträumt hast.
In dem Moment wusste ich, dass der Sommer einfach wunderbar sein wird! Ein paar Tage verbrachte ich sorglos auf meinem nagelneuen Rad durch die Straßen der Stadt flitzend gemeinsam mit meinen Freunden.
Eines Abends, gegen 23 Uhr, liefen im Fernseher wie immer die Nachrichten. Eigentlich bin ich kein Fan von derartigen Sendungen, aber meine Mutter. Ich war schon im Bett, als ich „Altschewsk“ hörte, den Nahmen meiner Stadt. Ich wurde neugierig, sprang aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer. Meine Mutter saß auf der Couch rechts neben der Wand. Es war alles wie sonst, aber ihr Gesichtsausdruck war so voll Sorge, dass ich Angst bekam.
Als sie mich sah, schaltete sie abrupt das Gerät aus und fragte, warum ich denn noch nicht im Bett sei: „Hast du gesehen, wie spät es ist? Geh schnell ins Bett.“
Ich sah ihr an, dass sie versuchte, etwas vor mir zu verbergen.
Am nächsten Morgen wachte ich nach einem seltsamen Traum auf, wusch mein Gesicht, erledigte meinen Teil der Arbeiten im Haus und ging spazieren. Ich war schon an der Stelle, an der ich mich am Abend zuvor mit meinem besten Freund verabredet hatte, er allerdings war noch nicht da. Ich wartete. Nach einiger Zeit rief mich meine Mutter an: „Wo bist du denn, Andrjuscha? Warum bist du nicht zu Hause? Komm auf der Stelle zurück!“
Ich hörte in ihrer Stimme Angst, begriff sofort, dass etwas nicht stimmte und eilte zurück. Die Straßen waren ungewöhnlich still und wie leergefegt. Nur selten sah ich einen Fußgänger oder ein Auto vorbeifahren. „Was ist denn hier los?“, ging es mir durch den Kopf und ich rannte los.
Als ich in unser Treppenhaus hineinging, sah ich eine Szene, die mich im ersten Moment sehr erschreckte: Ein Soldat, ein echter Soldat stand an unserer Haustür. An seinem Rücken hatte er ein riesiges Maschinengewehr hängen, das so lang war, dass es vom Hals bis zu seiner Hüfte reichte. Ich hatte so etwas noch nie aus dieser Nähe gesehen, nur in Computerspielen oder auf Bildern. Abrupt blieb ich stehen, meine Beine und Hände waren wie gelähmt. Ohne zu blinzeln starrte ich den Mann an.
Erst als ich Mutters Stimme hörte, kam ich zu mir. Sie sah mich und befahl, in die Wohnung hineinzugehen. Sehr langsam, wie in einem Traum, ging ich an dem Mann vorbei, doch als ich in sein Gesicht schaute, spürte ich Erleichterung: Dort gab es nichts, wovor man Angst haben müsste. Kurz darauf, als ich in meinem Zimmer war, hörte ich die Haustür zufallen. Dann kam meine Mutter zu mir: „Hast du dich erschreckt? Verzeih mir, ich wollte dir das ersparen, aber es ist mir leider nicht gelungen. Der Mann war da, um uns zu warnen, dass wir nicht nach draußen gehen sollen. Sie wollen in unserem Stadtteil irgendein Regierungsgebäude stürmen“. „Wollen sie hier in unserer Stadt etwa schießen? Mutter, warum?! Wer braucht denn sowas?“ – schrie ich und sah Tränen in ihren Augen. Sie hatte keine Antworten.
„Ich weiß, es ist sehr schwer, aber du musst geduldig sein. Bald werden wir umziehen“, sagte sie.
Mein Herz raste: Wie ist das nur möglich? Ich will meine Stadt nicht verlassen! Hier sind meine Freunde, meine Familie, mein Zuhause! Ich verstand, dass unsere Abwesenheit länger dauern würde als ein paar Tage – dass ich meine Heimat womöglich nie wiedersehen würde.
„Es ist nur ein Traum! Ein Alptraum! Ich wache gleich wieder auf und gehe wie immer hinaus zu meinen Freunden!“, dachte ich.
Doch es gelang mir nicht, das Leben zu täuschen”. Den ganzen nächsten Tag lang dachte ich über das gestrige Ereignis nach. „Warum jemand wohl Waffen erfunden hat?“, fragte ich mich. „Ist dies wirklich der einzige Weg, das Erwünschte zu bekommen? Warum können Menschen nicht einfach miteinander reden?“
Ich finde, dass alle Menschen, die auf andere mit Gewehren zielen, schlimmer sind als Tiere. Sie sehen uns ähnlich, aber da sie andere Menschen nicht respektieren, kann man sie nicht als Menschen bezeichnen.
Der Abend brach an. Da ich nicht nach draußen durfte, schaute ich fern. Es gab dieses Mal keine schlechten Nachrichten, daher ging ich beruhigt ins Bett. Doch es gelang mir nicht, schnell einzuschlafen. „Alles zurücklassen und neu anfangen? Das schaffe ich nicht! Irgendeine neue Stadt und neue Freunde? Aber hier ist meine Stadt, hier sind meine Freunde! Die besten Freunde auf der ganzen Welt!“, ging es mir durch den Kopf.
Ein Tag nach dem anderen ging vorbei. Die Straßen wurden immer leerer, Freunde riefen auch nicht mehr an. Ich fühlte mich einsam und gelangweilt. Meine Mutter, meine Oma und mein Opa machten mir Mut.
Dann verschwand der Mobilfunk und wir konnten niemanden mehr anrufen, um zu fragen, was geschah. Es gab auch kein Wasser mehr. Keinen Strom. Abends zündeten wir Kerzen an und redeten über unsere Hoffnungen und Pläne. Meine Mutter erzählte, wohin sie mit mir fahren will. Da erfuhr ich, dass wir nur zu zweit wegfahren würden. Meine Großeltern würden in der Heimatstadt bleiben, die langsam ausstarb.
Mein Leben veränderte sich. Bald schon hasste ich diesen Sommer. Mir war es gleich, wer da mit wem nicht klar kam.”. Ich wollte nur, dass meine Familie wie vorher leben konnte. Erst dann verstand ich, wie ernst die Lage war und dass ich meine Stadt früher oder später verlassen würde. Das machte mir sehr zu schaffen und ich zog mich zurück, wollte mit niemandem mehr reden. Damals maß ich mir an, herausgefunden zu haben, wie das Leben funktioniert.
Menschen verließen die Stadt in Massen, daher war es sehr schwierig, eine Mitfahrgelegenheit zu finden.
Eines Nachts wachten wir wegen eines ohrenbetäubenden Grollens auf. „ Ein Erdbeben?“, dachte ich. Doch im nächsten Moment verstand ich, dass ich falsch lag. Es schien wie ein Traum, ein sehr schlechter Traum. Irgendwo, ganz in der Nähe, explodierten Raketen. Ich sah meine Mutter weinen. Jeder hatte Angst und war verwirrt. Man hatte das Gefühl, dass vor unserem Haus ein riesiger Tornado wühlen würde. Ich war sehr erschrocken, vor meinem inneren Auge sah ich mein gesamtes Leben an mir vorbeiziehen. Plötzlich stellte ich mir vor, dass dies das Ende war. Dann hörte ich meine Mutter schreien: „Schnell, lasst alles hier und lauft in den Keller!“
Die Neugierde zwang mich, aus dem Fenster herauszugucken. Meine Hände zitterten, solche Angst hatte ich noch nie erlebt. Mein Opa packte mich und zerrte mich mit nach unten in den Keller. Ich war wie benebelt. Unsere Nachbarn liefen auch nach unten.
Ein kleines Kind, das in den Händen seines Vaters lag…
Ich erinnere mich noch, dass der Kleine mir unendlich leidtat, weil er jetzt in dieser Stadt leben musste.

Im Keller ist es kalt, nass und der Platz ist knapp. Es sind noch 15 weitere Menschen hier.
Nach etwa fünf Minuten ließ das Grollen nach.

„Wir sollten noch fünf Minuten warten“, sagte jemand aus der Menge.
Wir warteten noch fünf Minuten und kehrten dann in unsere Wohnungen zurück.
Zu Hause angekommen hatte ich keine Lust, mit jemanden zu reden, Schlaf und Hunger verließen mich auch. Nie werde ich den Anblick dieser sechs Raketen in der Luft vergessen.
Bald kam der Tag, an dem ich mich von meinen Großeltern verabschieden musste. Ich kann bis heute nicht glauben, dass all das wirklich passiert ist. Gerade eben verabschiedete ich mich nur für den Sommer von der Schule und bald würden meine Stadt, mein rotes Rad und meine Schule schon Geschichte sein. Und meine Großeltern… Ich wollte sie nicht zurücklassen, aber wir hatten keine andere Wahl. Mein Opa schaute mich an, seine Augen voll Hoffnung, aber auch voller Freude: „Andrjuscha, ich verstehe schon, wie dir zumute ist. Dennoch solltest du die Schule beenden und dein Leben weiterführen. Mach dir keine Sorgen um uns. Sobald wir eine Gelegenheit kriegen, kommen wir nach.“
In seiner Stimme hörte ich das Vertrauen, das er in mich hatte – er wusste, ich würde alles schaffen, alle Schwierigkeiten bewältigen. Da mir die Worte fehlten, umarmte ich ihn einfach.
„Wir alle unterstützen dich. Sieh nur zu, dass du es im Leben zu etwas bringst“, sagte Oma. Ich tat mein Bestes, um meinen Schmerz nicht zu zeigen, versuchte, mich stark zu geben, aber aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass ich sie zum letzten Mal in meinem Leben sah. Nur unterwegs konnte ich mich davon lösen.
Früher liebte ich es, auf Reisen zu gehen. Doch noch mehr als das liebte ich es, nach Hause zurückzukehren. Dieses Mal war alles anders.
Der erste Halt war schrecklich. Ein verlassener Ort irgendwo im Nirgendwo auf einem Feld. Mutter sagte, dass es ein Kontrollpunkt sei, dennoch spürte ich nicht gleich die Gefahr. Als ich allerdings genauer hinschaute, sah ich sehr viele Soldaten. Einer von ihnen ging auf einmal in Richtung unseres Autos. Ein bewaffneter, offensichtlich sehr betrunkener Mann öffnete die Autotür. Sein Gesicht war dreckig, seine Kleidung stank, und an seinem Rücken hing ein Maschinengewehr. Er verlangte von uns, dass wir ihm unsere Papiere zeigen. Die Kontrolle dauerte 15 Minuten.
Falls ich mich nicht verrechne, passierten wir ungefähr 20 Blockstellen während der siebenstündigen Fahrt. Als ich die Ansage hörte, dass wir bald am Ende unserer Reise waren, freute ich mich ungemein.
Nur eines machte mich traurig: Dort, Daheim, blieben meine Großeltern… alleine…
Übersetzung aus dem Russischen:  Viktoria Puskar